Faszinierende - und ganz andere - Darstellung des Trojanischen Krieges aus der Sicht von Kassandra. Erzählt komplett in der Rückschau kurz vor Kassandras Tod. Diese Darstellung zeigt ein ganz anderes Bild des Krieges, die Entmenschlichung, die damit einhergeht - Kassandra wird ihr Volk, ihre Familie fremd -, die Gegenseitigkeit von Eigenen und Gegnern, auch ein sehr anderes Bild von Achill, den Homer als Helden verherrlicht, der aber hier nur, aus gutem Grund, 'Achill das Vieh' heisst. Die Gestalt der Kassandra gewinnt dabei unglaubliches Format, ihre Sehergabe wird glaubwürdig und nachvollziehbar dargestellt (z.B. wie sie ihren eigenen Hochmut erkennt und hinterfragt). Eine dunkle Erzählung mit vielen eindrucksvollen Seiten.
Zitate:
"Wenn die Angst abebbt, wie eben jetzt, fällt mir Fernliegendes ein. Warum haben die Gefangenen aus Mykenae ihr Löwentor noch gewaltiger beschrieben, als es mir erscheint? Warum schilderten sie die Zyklopenmauern ungeheurer, als sie sind, ihr Volk gewalttätiger und rachsüchtiger, als es ist? Gern und ausschweifend haben sie mir von ihrer Heimat erzáhlt, wie alle Gefangenen. Keiner hat mich je gefragt, warum ich so genaue Erkundigungen über das feindliche Land einzog. Und warum tat ich es denn, zu einer Zeit, als auch mir sicher schien, dass wir siegten? Da man den Feind schlagen, nicht aber kennen sollte? Was trieb mich, ihn zu kennen, da ich den Schock: Sie sind wie wir! für mich behalten musste. Wollte ich wissen, wo ich sterben würde? Dacht ich ans Sterben? War ich nicht triumphgeschwollen wie wir alle?
Wie schnell und gründlich man vergisst."
"Das alte Lied: Nicht die Untat, ihre Ankündigung macht die Menschen blass, auch wütend, ich kenn es von mir selbst. Und dass wir lieber den bestrafen, der die Tat benennt, als den, der sie begeht: Da sind wir, wie in allem übrigen, alle gleich. Der Unterschied liegt darin, ob mans weiss."
"Nie war ich lebendiger als in der Stunde meines Todes, jetzt.
Was ich lebendig nenne? Was nenne ich lebendig. Das schwierigste nicht scheuen, das Bild von sich selbst ändern."
"Wann der Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da. Da Stünde. unter andern Sätzen: Lasst euch nicht von den Eignen täuschen."
"Anchises. Wär Anchises hier. Wäre er bei mir, alles liesse sich ertragen. Er liess die Angst nicht zu, dass irgend etwas, was auch geschehen mochte, unerträglich sei. Ja, es gebe Unerträgliches. Doch warum es fürchten, lange eh es da ist! Warum nicht einfach leben, und wenn möglich, heiter. Heiterkeit, das ist das Wort für ihn, allmählich sah ich auch, woher sie kam: Er durchschaute die Leute, vor allem sich selbst, und hatte Spass daran, nicht Ekel, wie Panthoos. Anchises war, nein: ist ein freier Mensch. Auch über die ihm übel wollen, denkt er unbefangen nach."