Ein wunderschönes Buch - als Appetithappen hier aus Kapitel 22 eine mich völlig beindruckende Stelle:
An der Hand zerrt Franka mich ins große Zelt. Ungeduldig zupft sie an mir, während ich mir die Schuhe ausziehe. Es ist bereits gerammelt voll. Mindestens vierhundert Menschen sitzen andächtig im Schneidersitz im Halbrund und warten auf den Chef-Lama. Ich versuche, Antje zu entdeckend, aber vergebens.
Ich werfe meine Schuhe in eine Ecke und stakse hinter Franka her quer über die Sitzmatten, da tippt mich ein dicker Mann mit grauem Pferdeschwanz auf die Schulter und deutet auf meine Schuhe. Mit untergeschlagenen Armen sieht er mir zu, wie ich meine Schuhe wieder aufklaube und sie ordentlich in Reih und Glied mit Hunderten von anderen Schuhen stelle. Das ist mir seit meiner Schulzeit nicht mehr passiert. Ich schäume vor Wut. Buddhapolizei, denke ich erbost.
Franka sieht mir kopfschüttelnd zu und zerrt mich auf ein winziges Sitzkissen, auf dem kaum mein Hintern Platz hat. Ich verdrehe meine Beine wie ein Fakir, stoße meine Knie meinem Vordermann ins Kreuz, der sich daraufhin langsam umdreht und mich mit einem Blick voller Verachtung bedenkt.
Es herrscht angespannte Stille. Fliegen surren wie kleine Flugzeuge laut durch die heiße Luft. Leicht wehen die Zeltplanen im Wind. Vierhundert Menschen sind mucksmäuschenstill. Plötzlich geht ein Tuscheln durch die Menge, alle rappeln sich auf und verharren mit gesenktem Kopf.
Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und sehe Lama Tubten Rinpoche, den Mann mit der Dose von Claudias Buch, wie er durch die Menge schwebt. Nicht so wie die Batikdamen um den See, nein, dieser Mann schwebt wirklich. Sein Körper bewegt sich beim Gehen nicht auf und ab, sondern gleitet wie ein Schiff ganz langsam an der Menge seiner andächtig gebeugten Anhänger vorbei.
Er wird gefolgt von einem jungen Mönch mit schwarzer Meckifrisur, der einen Teebecher trägt. Franka hebt ein wenig den Kopf, strahlt den jungen Mönch an – und da weiß ich, daß das wohl Pelge sein muss. Er macht auf die Entfernung einen netten und sehr, sehr jungen Eindruck.
Tubten Rinpoche schwebt auf seinen gelben Thron zu, nimmt im Schneidersitz Platz, rafft sein rotes Gewand, legt es achtsam in Falten, richtet sich auf und bedeutet der Menge mit einer kleinen Handbewegung, sich zu setzen.
Um mich herum werfen sich nun alle dreimal hintereinander schwitzend und keuchend zu Boden, während ich wie angewurzelt dastehe wie der letzte Depp. Es erinnert mich ein wenig an die quälenden Schulkonzerte, in denen ich als Geigenschüler mitspielen musste und bei denen ich regelmäßig dadurch auffiel, daß mein Geigenbogen in die Höhe ging, wenn alle anderen nach unten zogen. Ich hatte keine Möglichkeit mehr, diesen Fehler zu korrigieren, immer wieder schob sich mein Bogen nach oben, alle anderen nach untern, so wie ich auch jetzt keine Chance habe, mich ebenfalls zu Boden zu werfen, denn ich hätte unweigerlich den falschen Rhythmus. Alle anderen wären oben, während ich mich auf die Knie werfen würde, und wäre ich wieder oben, wären sie auf den Knien. Ich ziehe entschuldigend die Schultern hoch, aber Lama Tubten Rinpoche sieht mich nur freundlich an.
Endlich sitzen alle, und er lächelt weiter in die Runde. Alle halten den Atem an. Minutenlang mustert er die Menge und lächelt. Nichts geschieht. Gar nichts. Ich gähne hinter vorgehaltener Hand. Tubten Rinpoche sieht mich an. Er fixiert mich, sieht wirklich mich unter all diesen Menschen an, lächelt und fragt mich in einem weichen, indisch gefärbten Englisch: Hast du den schönsten Moment deines Lebens schon erlebt?
Der Satz kommt auf mich zugesaust wie ein Pfeil, und unwillkürlich weiche ich aus, aber da hat er mich schon getroffen. Mitten rein ins weiche, verletzliche Fleisch. Der schönste Moment meines Lebens? Meines ganzen Lebens? Ich hoffe nicht. Bisher gab es ein paar schöne Augenblicke, klar. Fröschefangen als Kind, bei meiner Mutter auf dem Schoß sitzen, Autofahren mit Musik in der Nacht, verliebt sein, vögeln und danach rauchen, die Geburt von dem Mensch, der jetzt neben mir sitzt und den ich nur noch ab und zu als meine Tochter wieder erkenne.
Als sie ausschlüpfte, dachte ich: Das hier, das ist der schönste Moment meines Lebens.
Dieses winzige, uralte und völlig neue Wesen, das von weit her zu kommen schien, um mir zu erzählen, worum es eigentlich geht. In der Nacht, als sie geboren wurde, dachte ich, ich hätte es begriffen. Ein für allemal.
Schönster Augenblick? Als ein Frosch in meiner hohlen Hand auf und ab sprang. als ich in meinem ersten Auto, einem grünen 2CV, nach Frankreich fuhr, die Hand mit einer Gauloise aus dem Fenster hängend, der warme Fahrtwind an meinem Arm und das Gefühl, daß alles, alles in meinem Leben von jetzt an immer nur größer und aufregender werden würde. Ein Kuß von Claudia, ganz am Anfang, süß wie Halva. An einem Strand in Spanien, den heißen Sand am Rücken, Stairway to heaven im Transistorradio. Genauso kam ich mir damals vor: in großen Schritten dem Himmel entgegengehend. Die erste große Enttäuschung – mein Versagen an der Filmhochschule. Aber dafür Claudia, die Retterin, und Franka, die winzige Franka im Waschbecken als Säugling, nachts in unserem Bett wie ein kleiner Alien, im Schlafsack, in einem roten Samtkleidchen, wie sie in meine Arme läuft, einen Löwenzahnstrauß in der Hand. Ich werde von Schnappschüssen meines Lebens überflutet, aber den schönsten, allerallerallerschönsten Moment finde ich nicht, und das ist mir nur recht so, denn ehrlich gesagt hoffe ich, daß das Glück in meinem Leben nicht schon verlebt ist und er noch kommen muß, ich ihn immer noch vor mir habe, den schönsten Augenblick meines Lebens.
Viele Menschen sind der Ansicht, der schönste Moment ihres Lebens müsse noch kommen, fährt Tubten Rinpoche fort, irgendwann in der Zukunft. Und dann lacht er aus vollem Hals, als hätte ihm jemand einen guten Witz erzählt.
Morgen, prustet er, übermorgen, nächstes Jahr. Wenn ich erst meine Ausbildung fertig habe, wenn ich erst wieder gesund bin, wenn ich erst ein Kind habe, wenn ich den richtigen Mann oder die richtige Frau finde, wenn ich genug Geld habe, dann, dann, dann … Er will sich ausschütten von Lachen. Er lacht uns aus. Lacht mich aus. Mich persönlich. Ich bemerke, wie ich kritisch den Kopf schief halte und die Augenbrauen hochziehe.
Wenn, wenn, wenn, lacht er, dann, dann, dann. Sieht es so in eurem Kopf aus? Ja?
Mmm. Und? Was ist daran so schlimm?
Tubten Rinpoche hört auf zu lachen. Der schönste Augenblick eures Lebens, sagt er zärtlich, der schönste Augenblick ist – jetzt.
Jetzt?
The best moment of your life is right now, wiederholt er und lehnt sich zurück.
Was bitte soll an diesem Augenblick, jetzt, in diesem heißen, überfüllten Zelt mit Hunderten von neurotischen Menschen so schön sein? Warum? fragt Tubten Rinpoche. Sehr einfach. Weil es der einzige eures Lebens ist. Dieser Augenblick jetzt kommt nie wieder. Und wenn ihr ihn verpaßt, verpaßt ihr euer Leben.
Erstaunt bemerke ich, wie mir Tränen in die Augen schießen wie kleine Fontänen.
Hört auf zu rennen, sagt Rinpoche leise, wie zu einem Kind, das aufhören soll, mit seinem Essen zu spielen. Hört auf, der Zukunft hinterherzurennen. Die Vergangenheit ist vorbei, die Zukunft ist noch nicht da, die Gegenwart ist euer Zuhause.
Völlig unerklärlicherweise laufen mir die Tränen übers Gesicht. Eine schmale Hand greift nach meiner und hält sie fest. Die Hand meiner Tochter. Da sitzt ihr alter Vater, der sie vor tibetischen Verführern beschützen soll, und hat nichts Besseres zu tun, als zu flennen.
Sie grinst, verlegen grinse ich zurück und hoffe, sie wird meine Hand nicht loslassen. In ihrer großen, fast erwachsenen Hand spüre ich ihre unfaßbare winzige Säuglingshand mit perfekten Miniaturfingernägeln, die nach meinem Zeigefinger griff wie ein Äffchen nach einer Liane; später ihre kleine fette Patschpfote, die sie mir manchmal auf die Backe legte, kurz bevor ich aufwachte; die schmale Hand einer großen dünne Sechsjährigen, die sie vertrauensvoll an jeder Ampel in meine legte; diese weiche, so zarte und zerbrechliche Kinderhand, die mich, ihren großen dummen Vater, beschützen will.