Die Geschichte eines Majors, der nach dem Tode seiner Frau (und einer riesigen Erbschaft) in fortschreitenden Übertretungen immer neue Grenzen der Sexualität übertritt - und schliesslich damit die (damalige 1980?) Schweizer Gesellschaft zu sehr herausfordert. Interessante Gedanken: "Man schreibt, weil man krank ist!" - wobei sich mir schon länger auch die Frage aufgedrängt hat, ob man vielleicht liest, weil man die Gegenwart fliehen möchte. Ausserdem interessant, dass der Major zu dem Gefühl kommt, dass genau diese 'fortschreitenden Übertretungen' das sind, was er am besten im Leben kann.
Zitate:
Er sagte mir, dass er es interessant finde, festzustellen, wie alle Menschen sich nach etwas sehnten, das sie nicht haben; schon allein vom geographischen Gesichtspunkt aus: wie alle sich irgenwie danach sehnten, anderwohin zu gehen, sich von dem Ort, an dem sie lebten zu entfernen, wo immer er auch sei? Und dass sie sich, vielleicht aus Mangel an Phantasie, doch fast immer nur ein wenig zu entfernen suchten, nicht allzuweit weg von Vertrautem. Die reichen Mailänder nach Lugano oder Monte Carlo, die Deutschen in die griechische oder italienische Sonne, die Franzosen auf die Inseln Polynesiens, soweit sie französich sind. Nach Ansicht des Majors verbarg sich hinter dieser Neigung weniger der Wunsch, mit der Gesellschaft, der man angehörte, zu brechen, als der, als Fremde in einem Milieu zu leben, in dem die gesellschaftlichen Bindungen auf ein Minimum reduziert sind. Das Geld kann sehr viel bewirken: Ein reicher Deutscher, der kein Griechisch spricht, kann zum Beispiel jahrelang auf einer griechischen Insel leben und nur die allernotwendigsten Kontakte mit den Inselbewohnern haben. Wenn er sich emotional selbst genügt, kann er gesellschaflich völlig beziehungslos leben, bis zu seinem Tod.
"Ich glaube, dass bei jedem Koitus, abgesehen von dem, der den Verlust der Jungfräulichkeit bedeutet", hatte der Major geschrieben, "auch eine psychologische Komponente mitspielt, die hinsichtlich der späteren Verkettungen der Handlungen, seien es die aus Liebe oder die der blossen sexuellen Vereinigung, für gewöhnlich vernachlässigt wird: die Rache.
Bei jedem männlichen oder weiblichen Orgasmus rächt man sich ein wenig: für erlittenes Leid, für Traumata, die man wehrlos hinnehmen musste, für Verbote, die als absurde Ungerechtigkeit erlebt wurden, für heimliche oder zurückgehaltene Tränen in jedem Alter. Man rächt sich für die älteren Schulkameraden, man rächt sich für die strengen Aufpasserinnen. Man rächt sich für die Priester, man rächt sich für die grösseren Schwestern. Aber vor allem rächt man sich für die eigene Mutter oder den eigenen Vater, die es uns nicht zugestanden haben, an einem weit zurückliegenden Tag gemäss unseren Instinkten die ungezügelte Freude jener ersten, überbordenden sexuellen Befriedigung zu finden, die nur sie uns hätten ermöglichen können. Das hätte uns vielleicht für unser ganzes Leben unglücklich gemacht, da es nie wieder etwas Gleichwertiges hätte geben können. Aber was ist besser: für immer unglücklich zu sein oder sich für immer unerfüllt und rachgierig zu fühlen?"
... in der Gewissheit, zu der wir beide, der Major und ich, mit gegenseitiger Hilfe gelangt waren: dass das Leben eine unheilbare Krankheit ist, dazu bestimmt, mit dem Tod zu enden, und dass das Streben nach Unsterblichkeit auf dem Weg der Kunst, der Politik, der Religion, der Tugend ein Placebo für Geister ist, die sich von der Realität zu sehr haben einschüchtern lassen, um ihr ins Gesicht zu sehen.