Die Geschichte von zwei Schwestern zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Eine Geschichte aus einer Zeit, die uns heute von so vielen Zwängen und Klischees geprägt scheint, dass es beinahe wehtut, andererseits in den Hauptpersonen eine erstaunliche Emanzipation und Freiheit anzeigt. Viele Dinge sind so sanft und einfühlsam geschrieben, irgendwie liebevoll. Obwohl es nicht immer sanft zu geht - ein schönes Buch
"Brüte nicht zu viel", schrieb sie an Helen, "über die Übermacht des Unsichtbaren über das Sichtbare! Es stimmt zwar, aber darüber zu brüten ist mittelalterlich. Unsere Aufgabe ist nicht, beides gegeneinander zu setzen, sondern beides miteinander in Einklang zu bringen."
Beim Rückblick auf das vergangene halbe Jahr erkannte Margaret, wie chaotisch unser tägliches Leben ist, wie sehr es sich von dem geordenten Ablauf unterscheidet, den die Historiker fabrizieren, Das wirkliche Leben steckt voller falscher Spuren und Wegweiser, die nirgendwohin führen. Mit unendlicher Anstrengung rüsten wir wir uns für eine Krise, die dann nie kommt. Noch im erfolgreichsten Leben werden Kräfte vergeudet, mit denen man hätte Berge versetzen können, und das erfolgloseste Leben führt nicht etwa der, den es unvorbereitet trifft, sondern derjenige, der vorbereitet ist und den es niemals trifft. Über eine Tragik von solcher Art schweigen sich unsere Volksmoralisten geflissentlich aus. Sie setzen voraus, dass Vorbereitung auf die Gefahr in sich schon etwas Gutes ist und dass Menschen wie ãtionen gut daran tun, in voller Rüstung durchs Leben zu stoplern. Die Tragik des Vorbereitetseins ist noch kaum behandelt worden, ausser von den Griechen. Das Leben ist in der Tat gefährlich, aber nicht auf die Art, wie die Moralisten uns glabuen machen wollen. Es ist in der Tat unkontrollierbar, aber seine Quintessenz ist nicht der Kampf. Es ist unkontrollierbar, weil es eine Romanze und seine Quintessenz romantische Schönheit ist.
Margaret hofffte, dass sie in Zukunft nicht vorsichtiger, sondern weniger vorsichtig sein würde, als sie es bisher gewesen war.
"... Ich wünsche mir Tätigsein ohne Zivilisation. Paradox, was? Aber ich glaube, genau das werden wir einmal im Himmel vorfinden."
"Und ich", sagte Tibby, "wünsche mir Zivilisation ohne Tätigsein, was wir höchstwahrscheinlich am anderen Ort vorfinden werden."
"So weit brauchst du da gar nicht erst zu gehen, Tibbylein, wenn du das suchst. Das findest du auch in Oxford."
"Alles zieht um. Auf Wiedersehen!"
Die Flut begann zu sinken. Margaret lehnte sich über die Brüstung und sah traurig auf den Fluss hinab. Mr. Wilcox hatte seine Frau vergessen und Helen den Mann, den sie geliebt hatte. Auch sie vergass wahrscheinlich fortwährend. Alles zieht um. Hat es denn Sinn, sich an Vergangenes zu hängen, wenn doch alles im Fluss ist, sogar in den Herzen der Menschen?
"Was wollen Sie denn mit Ihren Sternen und Bäumen, Ihrem Sonnenaufgang und Wind, wenn nichts davon in unser tägliches Leben eindringt? In mein Leben ist nichts davon eingedrungen, wir dachten aber, in das Ihrige - Haben wir denn nicht alle anzukämpfen gegen das Grau des Alltags, gegen das Kleinliche, gegen die mechanische Fröhlichkeit, gegen das Misstrauen? Ich kämpfe, indem ich an meine Freunde denke; andere, die ich kannte, indem sie an irgendeinen Ort - irgendeinen geliebten Ort oder Baum - dachten. Wir glaubten, zu denen gehörten Sie auch."
"Das grässliche, nagende Misstrauen. Ein bisschen Überlegung oder guten Willen und es wäre wie weggewischt. Einfach nur diese sinnlose Furcht, die aus den Menschen solche Mistkerle macht."
Da hatte sie die Belohnung für ihren tagsüber aufgebotenen Takt und Opfermut. Nun verstand sie erst, warum es manchen Frauen mehr auf Einfluss ankommt als auf bürgerliche Rechte. Bei ihrer Missbilligung des Frauenstimmrechts hatte Mrs. Plynlimmon erklärt: "Die Frau, die ihren Mann nicht dazu bringt, dass er so wählt, wie sie möchte, sollte sich was schämen." Margaret hatte das richtig weh getan, aber nun liess auch sie ihren Einfluss bei Henry spielen, und wenn ihr natürlich ihr kleiner Sieg auch Freude machte, so musste sie sich doch sagen, sie hatte ihn mit rechten Haremsmethoden errungen.
Sie bemühte sich, die Versuchung, der er erlegen war, in ihre eigene Sprache zu übersetzen, und es schwindelte ihr. Männer mussten wahrhaftig anders beschaffen sein, dass sie einer solchen Versuchung überhaupt erliegen wollten. ... Sind die Geschlechter vielleicht wirklich verschiedene Rassen, jede mit einem eigenen Sittenkodex, und ist dann nicht vielleicht die Liebe zwischen ihnen nichts weiter als ein reiner Kunstgriff der Natur, damit das Leben weitergeht? Entkleidete man also die zwischenmenschlichen Beziehungen aller Anstandsformen so bliebe nur noch das? Ihr Gefühl sagte ihr nein. Sie wusste: aus dem Kunstgriff der Natur haben wir einen Zauber geschaffen, der uns die Unsterblichkeit gewinnen wird. Weit geheimnisvoller als der Lockruf der Geschlechter ist die Zärtlichkeit, die wir in diesen Lockruf legen; ...
Wie sich der Mensch zum Universum verhält, so verhielt sich auch Mr. Wilcox' Bewusstsein zum Bewusstseinsinhalt anderer Menschen: es glich einer Lichtquelle, die gebündelt auf einen einzigen Fleck scheint, einem kleinen Zehnminutensystem, das sich abgeschlossen durch die ihm bestimmten Jahre bewegt. Wer nur dem Jetzt lebt, ist deswegen noch lange kein Heide, ja vielleicht ist er sogar weiser als alle Philosophen zusammen. Er lebte stets nur für die vorangegangegnen fünf Minuten und für die kommenden fünf; er war eine Händlernatur.
So wie manche Menschen einfach abschalten, wenn von Büchern die Rede ist, liess bei Tibby die Aufmerksamkeit sofort nach, wenn "persönliche Beziehungen" zur Sprache kamen. Musste Margaret denn überhaupt erfahren, was die Basts nach Helens Kenntnis alles wussten? Fragen dieser Art hatten ihm von frühester Kindheit an zu schaffen gemacht, und in Oxford hatte er die Redensart gelernt, dass die Bedeutung des Menschen von Fachleuten bei weitem überbewertet worden sei.
Sicher war es schade, dass sie sich über Wedekind und John nicht länger auf dem Laufenden hielt, aber etliche Türen müssen unweigerlich zugeschlagen werden, wenn man erst einmal über dreissig ist und der Geist in einem selber zur schöperischen Kraft werden soll.