Drei Klaviervirtuosen hat ihr Leben in einem Kurs bei Horowitz zusammen geführt. Einer davon ist Glenn Gould. Das Zusammentreffen mit dem Genie gibt den Leben der anderen eine unauslöschbare Änderung. Erzählt wird von einem der drei, nach dem Tod von Glenn Gould und dem Selbstmord von Wertheimer, dem Untergeher, im inneren Monolog, das Leben und seine Bedeutung, die Bedeutung und Bedeutungslosigkeit des Einzelnen, das Scheitern und Zurechtfinden.
Zitate:
Die grossen Denker haben wir in unsere Bücherkasten gesperrt, aus welchen sie uns, für immer zur Lächerlichkeit verurteilt, anstarren, sagte er, dachte ich. Tag und Nacht höre ich das Gejammer der grossen Denker, die wir in unsere Bücherkasten gesperrt haben, diese lächerlichen Geistesgrössen als Schrumpfköpfe hinter Glas, sagte er, dachte ich. Alle diese Leute haben sich an der Natur vergriffen, sagte er, das Kapitalverbrechen am Geiste haben sie begangen, dafür werden sie bestraft und von uns in unsere Bücherkasten gesteckt für immer. Denn in unseren Bücherkasten ersticken sie, das ist die Wahrheit. Unsere Bibliotheken sind sozusagen Strafanstalten, in welche wir unsere Geistesgrössen eingesperrt haben, Kant naturgemäss in eine Einzelzelle wie Nietzsche, wie Schopenhauer, wie Pascal, wie Voltaire, wie Montaigne, alle ganz grossen in Einzelzellen, alle andern in Massenzellen, aber alle für immer und ewig, mein Lieber, für alle Zeit und in die Unendlichkeit hinein, das ist die Wahrheit. Und wehe, einer von diesen Kapitalverbrechern ergreift die Flucht, bricht aus, sofort wird er sozusagen fertig und lächerlich gemacht, das ist die Wahrheit. Die Menscheit weiss sich gegen alle diese sogenannten Geistesgrössen zu schützen, sagte er, dachte ich. Der Geist wird, wo immer er auftaucht, fertig gemacht und eingesperrt und er wird naturgemäss immer sofort zum Ungeist gestempelt, sagte er, dachte ich, während ich die Gastzimmerdecke betrachtete. Aber es ist alles Unsinn, was wir reden, sagte er, dachte ich, gleich, was wir sagen, es ist Unsinn und unser ganzes Leben ist eine einzige Unsinnigkeit. Das habe ich früh begriffen, kaum habe ich zu denken angefangen, habe ich das begriffen, wir reden nur Unsinn, alles, was wir sagen, ist Unsinn, aber auch alles, was uns gesagt wird, ist Unsinn, wie alles, was überhaupt gesagt wird, es ist in dieser Welt nur Unsinn gesagt worden bis jetzt und, sagte er, tatsächlich und naturgemäss nur Unsinn geschrieben worden, was wir an Geschriebenem besitzen, ist nur Unsinn, weil es nur Unsinn sein kann, wie die Geschichte beweist, sagte er, dachte ich.
Aber die Leute haben nicht verstanden, was ich meinte, wie immer, wenn ich etwas sage, verstehen sie nicht, denn was ich sage, heisst ja nicht, dass ich das, was ich gesagt habe, gesagt habe, sagte er, dachte ich. Ich sage etwas, sagte er, dachte ich, und ich sage etwas ganz anderes, so habe ich mein ganzes Leben in Missverständnissen zubringen müssen, in nichts als Missverständnissen, sagte er, dachte ich. Wir werden, um es genau zu sagen, doch nur in Missverständnisse hineingeboren und kommen, solange wir existieren, aus diesen Missverständnissen nicht mehr heraus, wir können uns anstrengen, wie wir wollen, es nützt nichts. Diese Beobachtung macht aber jeder, sagte er, dachte ich, denn jeder sagt ununterbrochen etwas und wird missverstanden, in diesem einzigen Punkte verstehen sich dann doch alle, sagte er, dachte ich. Ein Missverständnis setzt uns in die Welt der Missverständnisse, die wir als nur aus lauter Missverständnissen zusammgengesetzt zu ertragen haben und mit einem einzigen grossen Missverständnis wieder verlassen, denn der Tod ist das grösste Missverständnis, so er, dachte ich.
Freundschaften, dachte ich, sind letzten Endes, wie die Erfahrung zeigt, auf die Dauer nur möglich, wenn sie auf dem entsprechenden Hintergrund der Beteiligten aufgebaut sind, dachte ich, alles andere ist ein Trugschluss.
Wertheimer neidete Glenn aber fortgesetzt diese Künstlerschaft, er war nicht fähig, sie neidlos zu bestaunen, wenn auch nicht zu bewundern, wozu auch mir alle Voraussetzungen fehlten und fehlen, ich habe niemals etwas bewundert, aber doch sehr viel im Leben bestaunt und am meisten, darf ich sagen, habe ich in meinem Leben, das möglicherweise doch ein Künstlerleben genannt zu werden verdient, über Glenn gestaunt, staunend habe ich seine Entwicklung beobachtet, staunend bin ich ihm immer wieder begegnet, habe ich seine Interpretationen, wie gesagt wird, aufgenommen, dachte ich. Ich hatte immer die Möglichkeit, meinem Staunen freien Lauf zu lassen, mich durch niemanden und durch nichts in meinem Staunen beschränken, einengen zu lassen, dachte ich. Diese Fähigkeit hatte Wertheimer niemals gehabt, in gar keiner Beziehung, dachte ich. Ich hatte ja auch niemals zum Unterschied von Wertheimer, der sehr gern Glenn Gould gewesen wäre, Glenn Gould sein wollen, ich wollte immer nur ich selbst sein, Wertheimer aber war immer jenen zugehörig, die ständig und lebenslänglich und bis zur fortwährenden Verzweiflung ein anderer, wie sie immer glauben mussten, Lebensbegünstigter sein wollen, dachte ich. Wertheimer wäre gern Glenn Gould gewesen, wäre gern Horowitz gewesen wäre wahrscheinlich auch gern Gustav Mahler gewesen oder Alban Berg, Wertheimer war nicht imstande sich selbst als ein Einmaliges zu sehen, wie es sich jeder leisten kann und muss, will er nicht verzweifeln, gleich was für ein Mensch, er ist ein einmaliger, sage ich selbst mir immer wieder und bin gerettet. Wertheimer hatte diesen Rettungsanker, nämlich sich selbst als Einmaligkeit zu betrachten, niemals in Betracht ziehen können, dazu fehlten ihm alle Voraussetzungen. Jeder Mensch ist ein einmaliger Mensch und tatsächlich, für sich gesehen, das grösste Kunstwerk aller Zeiten, so habe ich immer gedacht und denken dürfen, dachte ich. Wertheimer hatte diese Möglichkeit nicht, so wollte er immer nur Glenn Gould sein oder eben Gustav Mahler oder Mozart und Genossen, dache ich. Das stürzte ihn schon sehr früh und immer wieder ins Unglück. Wir müssen keine Genie sein, um einmalig zu sein und das auch erkennen zu können, dachte ich. Wertheimer war ein ununterbrocherner Nacheiferer, er eiferte allem nach, von dem er glaubte, dass es besser gestellt sei als er, obwohl er nicht die Voraussetzungen dazu hatte, wie ich jetzt sehe, dachte ich, hatte er unbedignt Künstler sein wollen und ist dadurch in die Katastrophe hineingegangen.
Er wollte Künstler sein, Lebenskünstler genügte ihm nicht, obwohl doch gerade dieser Begriff alles ist, das uns glücklich macht, wenn wir hellsichtig sind, dachte ich. Schließlich war er in sein Scheitern verliebt, wenn nicht sogar vernarrt gewesen, dachte ich, hatte sich in dieses sein Scheitern verbohrt bis an sein Ende. Tatsächlich könnte ich ja sagen, er war zwar unglücklich in seinem Unglück, aber er wäre noch unglücklicher gewesen, hätte er über Nacht sein Unglück verloren, wäre es ihm von einem Augenblick auf den anderen weggenommen worden, was wiederum ein Beweis dafür wäre, dass er im Grunde gar nicht unglücklich gewesen ist, sondern glücklich, und sei es durch und mit seinem Unglück, dachte ich. Viele sind ja, weil sie tief im Unglück stecken, im Grunde glücklich, dachte ich und ich sagte mir, dass Wertheimer wahrscheinlich tatsächlich glücklich gewesen ist, weil er sich seines Unglücks fortwährend bewusst gewesen ist, sich an seinem Unglück erfreuen konnte. Der Gedanke erschien mir auf einmal gar nicht absurd, nämlich zu denken, dass er Angst hatte, dass er sein Unglück verlieren könne aus irgendeinem mir nicht bekannten Grund und deshalb nach Chur und nach Zizers gefahren ist und sich umgebracht hat. Möglicherweise müssen wir davon ausgehen, dass es den sogenannten unglücklichen Menschen gar nicht gibt, dachte ich, denn die meisten machen wir ja erst dadurch unglücklich, dass wir ihnen ihr Unglück wegnehmen.
Wir haben es immer wieder mit solchen Untergehern und mit solchen Sackgassenmenschen zu tun, sagte ich mir, und ging rasch gegen den Wind. Wir haben die grösste Mühe, uns vor diesen Untergehern und diesen Sackgassenmenschen zu retten, denn diese Untergeher und diese Sackgassenmenschen setzen alles daran, ihre Umwelt zu tyrannisieren, ihre Mitmenschen abzutöten, sagte ich mir. So schwach sie sind und gerade weil sie so schwach konstruiert und gemacht sind, haben sie die Kraft, auf ihre Umwelt eine verheerende Wirkung auszuüben, dachte ich. Sie gehen rücksichtloser gegen ihre Umwelt und gegen ihre Mitmenschen vor, sagte ich mir, als wir uns das zuerst vorstellen können, und wenn wir auf ihren Antrieb gekommen sind, auf ihren ureigenen Untergeher- und Sackgassenmenschenmechanismus, ist es meistens schon zu spät, ihnen zu entkommen, sie ziehen einen, wo sie nur können, mit aller Gewalt hinunter, sagte ich mir, ihnen ist jedes Opfer recht, und handelt es sich um die eigene Schwester, dachte ich. Aus ihrem Unglück, aus ihrem Untergehermechanismus schlagen sie ihr grösstes Kapital, sagte ich mir, auf Traich zugehend, wenn ihnen dieses Kapital aber auch letzten Endes so viel wie nichts nützt selbstverständlich.