Unkonventionell geschriebene Krimigeschichte mit philosophischen und physikalischen Diskussionen um die Viele-Welten-Theorie. Sehr gut zu lesen, viele tolle Formulierungen - recht spannend auch.
Wenn sie wenigstens nur Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff miteinander teilen würden. Aber die Gemeinsamkeiten gehen tiefer, bis hinab zu den Protonen, Neutronen und Elektronen, aus denen er und die Asiatin aufgebaut sind und aus denen auch der Tisch besteht, auf den er seine Ellenbogen stützt, sowie der Kaffebecher, der ihm die Finger wärmt. Dieser Umstand macht Oskar zu einem beliebigen Ausschnitt der Materie, aus der die Welt geformt ist, alles enthaltend, was existiert, weil man aus ihr nicht entkommen kann. Er weiss, dass die Grenzen seiner Peron im grossen Teilchenwirbel verschwimmen. Er kann spüren, wie er sich buchstäblich unter andere Menschen mischt. In fast allen Fällen ist ihm dieses Gefühl unangenehm. Es gibt eine Ausnahme. Zu der ist er gerade unterwegs.
Die Hochzeitsgesellschaft sprach hinter vorgehaltenen Händen über den Trauzeugen, der an den Wänden des Festsaals entlangschlich und mit seiner dunklen Gestalt persönlich für die Schatten in den Ecken verantwortlich schien.
Im Graben liegt eine schwarze Katze, der das Überqueren der Fahrbahn von links Unglück gebracht hat.
Das Schöne an der Zeit ist, dass sie ohne Hilfestellung vergeht und sich nicht an dem stört, was in ihr geschieht. Auch die nächste Handvoll Sekunden wird sich vom Acker machen, und schon ist das, was eben noch unmöglich erschien, vergangen und vorbei. Warten ist nicht schwer. Das Leben besteht aus Warten. Folglich, beschliesst Sebastian, ist das Leben kinderleicht.
Wie er seit einiger Zeit weiss, bedeutet Altern nicht nur die Fähigkeit, um vier Uhr morgens zu erwachen und nicht mehr einschlafen zu können. Altern ist vor allem ein fortgesetztes Rendezvous mit dem eigenen Körper, ein Zwiegespräch mit Schläuchen, Filtern, Scharnieren und Pumpen, die jahrelang im Verborgenen ihren Dienst getan haben und sich dann plötzlich, nach Aufmerksamkeit heischend, ins Bewusstsein drängen. Sich selbst zu kartographieren, ist gleichbedeutend mit Sterben; sich ganz erfasst zu haben, ist der Tod, denkt der Kommissar, der, aufrecht wie eine Statue, mit dem Heben und Senken des Zugs leise schwankt.
Um zehn Uhr früh am Samstagmorgen ist Freiburg erst halb erwacht. Noch liegen die Gassen im Schatten. Rings um das Münster drängen sich die Tische und Stühle der Strassencafes in Grüppchen zusammen, als fürchteten sie sich vor dem bald einsetzenden Wochenendbetrieb. Wie Hirten gehen die Kellnerinnen zwischen ihnen umher, scheuchen Stühle auf ihre Plätze, streichen den Tischen über die Rücken, stellen Aschenbecher auf.
Die Tatsache, das Menschen einander mit Metallstücken durchbohren oder in blutige Einzelteile zerlegen, fand sie schon immer erträglicher als jene Darbeitungen der Verfalls, die das sogenannte natürliche Sterben begleiten. Am Endpunkt der menschlichen Herrlichkeit stellt sich die Frage, warum jemand wie Rita mit ganzer Kraft Leute jagt, die nichts weiter getan haben, als den quälend langsamen Untergang durch einen schnellen zu ersetzen. Die wahren Verbrecher - Krankheit, Sterblichkeit und die Angst davor - kann niemand hinter Gitter bringen.
... Mädchen, die sich die Wimpern zu Spinnenbeinen schminken.
Falls mein Bewusstsein die Welt erschafft, fehlt es ihm offensichtlich an Phantasie, dachte der Kommissar, denkt der Kommissar.
Das Leben, denkt Schilf, ist eine Geschichte mit vielen Stockwerken. Oder mit Kapiteln, von denen sich eins nach dem anderen geräuschlos schliesst.
Seit dem Bruch beschränkt sich Schilfs Interesse an Frauen im Wesentlichen auf ihre Glaubwürdigkeit im Zeugenstand. Daran hat auch Julias Erscheinen auf den letzten Metern der Wegstrecke nicht viel geändert. Dessen ungeachtet hat sein Körper mit ihrem ein Abkommen getroffen, das von beiden Parteien zur allseitigen Zufriedenheit erfüllt wird. Er schaut ihr gern zu, wenn sie sich auszieht. Sie knöpft sich die Bluse so unbefangen auf, wie andere Frauen ihre Handtasche öffnen. Die unzähligen Augenpaare, die Julias Körper jahrelang in aller Ausführlichkeit betrachtet haben, entheben den Kommissar der Verpflichtung, heilige Scheu zu empfinden. Er kann einfach hinsehen.
Wenn ihre Kleider sorgfältig gefaltet über der Stuhllehne hängen, rührt ihn ihre Nacktheit mehr, als dass sie ihn herausfordert. Sobald sie sich aber mit dem ganzen Leib an ihn schmiegt, liebt er sie mit aller Leidenschaft und Dankbarkeit, zu der er noch fähig ist. Liebt sie so sehr, dass alles aufhört, der Schmerz, die Grübeleien, der ganze menschliche Zwang zur permanenten inneren Berichterstattung über die eigene Existenz. Von Anfang an war Julia in der Lage, den Beobachter zum Schweigen zu bringen. Für ein paar Minuten kehrt Ruhe ein. Endlos wie die Farbe Schwarz. Schön wie eine Anleihe auf den Tod.
Der Rauch wirft wirbelnde Schatten auf das Fensterbrett, die sich ineinander verschlingen, verblassen und erneut in Bewegung geraten, wenn er den nächsten Zug aus den Lungen entlässt. So stellt er es sich vor, jenes geheimnisvolle Geflecht, die Ursuppe am Grund der Realität: als Schatten eines Gottes, der am Fenster raucht.