Walser fasziniert mich eigentlich immer wieder - hier sein erster Roman (ich lese ihn zum zweiten Mal, da er Band 9 in der SZ-Bibliothek ist ...). Das Reflektieren und das Hauptgeschehen im Innner der Personen, die schonunglose Offenheit der inneren Gedanken - und wie häufig es da Sachen an sich wiederzuerkennen gibt -, ist faszinierend.
In einer biederen Stadt werden hier von einem Neuankömmling vom Land die gesellschaftlichen Verhältnisse, speziell in den Ehen und Beziehungen der Menschen, beobachtet. Wieviel Vordergrund und Innenansicht sich unterscheiden, was alles vertuscht und doch offen ist. Auch noch einmal verkörpert im 'Sebastian', ein ehemaliges Antiquitätengeschäft mit kirchlichen Altertümern, das sich 'ganz allmählich' in eine Art Nachtlokal/Bordell wandelte ...
Ein kurzer Sommer hatte genügt, und alle Möglichkeiten waren zusammengeschrumpft zu einer kleinen Wirklichkeit, der er nicht mehr entrinnen konnte.
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Das war überhaupt sein grösster Kummer in jeder Gesellschaft, dass er immer einen Dolmetscher in sich aufstellen musste, auf dass der eine fade und meistens recht unzutreffende Übersetzung gebe von dem, was er eigentlich meinte.
Wer aber die Tugend, die nur dem Mangel an Gelegenheit ihre Existenz verdankt, schmähen will, dem muss gesagt werden, dass es auf der Erde schon genug ist, wenn überhaupt Sünde unterbleibt, nach den Gründen soll man da gar nicht mehr lange fragen. Der Mensch tut nun einmal Böses, solang er dazu Gelegenheit hat, und hat er keine, so muss er wenigstens die Genugtuung haben, sich seiner Tugend rühmen zu dürfen. Tugend ist also nichts anderes als Mangel an Gelegenheit, dachte Hans und empfand tief, wie sehr diese Einsicht ihn selbst betraf.
In seinem Kopf spielten zehn Orchester gegeneinander, und er war der einzige Dirigent, der sie zum Einklang bringen sollte. Dass etwas von ihm abhing, dass er sich entscheiden konnte oder wenigstens so tun konnte, als habe er die Wahl, so oder so zu entscheiden, das machte seinen Kopf heiss und seine Augen feucht, er spielte mit sich selbst ein pathetisches Spiel; er fühlte, wie seine Person Gewicht bekam, und er wollte diese Schwere auskosten, auskosten und noch einmal auskosten, er wusste ja nicht, wie lange sie bei ihm blieb, ob er sie nicht schon im nächsten Augenblick wieder verlieren würde, ob er nicht schon gleich wieder der ziel- und richtungslose, leichthin pendelnde Zuschauer sein würde, der er bis jetzt gewesen war.
Wie anders wird doch ein Mensch, wenn die Wortdecke abfällt von ihm, wenn er sein darf, wie er ist, wenn er nicht in jedem Augenblick einen gedachten Anspruch zu erfüllen sich müht!
Später stirbt man ja, so oder so, dachte er. Das ist die einzige Gewissheit, die man im voraus haben kann. In allem anderen war er ein Mann nachträglicher Feststellungen. ... Sein Leben bestand, genau besehen, darin, mit diesen immer nachträglich festgestellten Tatsachen auf seine Weise fertig zu werden.
Er selbst machte sich ja eigentlich nie Vorwürfe. Die Stimmen in ihm stritten sich, die einzelnen Rollen seines Seelentheaters. Heute war es schon eher ein Parlament. Er war auf der Zuhörergalerie, nein, auf der Pressetribüne, er hörte zu und registrierte sachverständig. Er hatte nicht zu urteilen, sondern lediglich einen Bericht zu schreiben. Gerne hätte er in all den Stimmen seine eigene entdeckt. Aber er existierte nicht als Einzelstimme. Er war ein konfuser Stimmenschwall, und es bedurfte schon ganz stiller, ganz aktions- und ereignisloser Zeiten, wenn er die Stimmen einzeln abhören wollte.
"Zirkulation ohne Störung. Lügen weich eingebettet in Halbwahres. Winternachmittag in einem Zimmer, das ein bisschen zu warm ist. Widersprüche liegen faul in den Ecken und erheben sich nicht. Urteilt man nach dem, was gesprochen wird, so sind alle zufrieden. Ein glücklicher Tag also. Wenn nicht am Abend noch oder in der Nacht der Mann etwas sagt, was er denkt."
"Manchmal stelle ich mir vor, dass es schön wäre, ein Mann zu sein, der "vorwärts" kommen will, der seine Frau "liebt", Kinder will und in seiner Familie aufgeht. Aber ich darf diesem Wunsch nicht nachgeben. Das ist der Wunsch, ein anderer zu sein. Wenn ich mich ganz von diesem Wunsch durchdringen lasse, muss ich aufhören zu leben, denn ich habe keine Kraft, jener andere zu werden. Also ist der Wunsch, ein anderer zu werden, eine Versuchung, sich umzubringen ..."