Ein erstaunliches Buch - ich hatte schon vor einer längeren Zeit mal eine Lesung mit der Autorin gehört und dann vorgenommen das Buch einmal zu lesen. Von der Lesung her hatte ich in Erinnerung, dass etwas recht 'Dunkles' geschehen würde, aber die ersten paar Hundert Seiten (von ca. 700) erzählen eine Geschichte einer Jugendlichen mit all den täglichen Schwierigkeiten mit Schule, Freunden, etc. Ungewöhnliche Elemente ordnet man dabei automatisch leicht der etwas übersteigerten Empfindungen einer Jugendlichen zu. Diese Blue van Meer ist allerdings sehr intelligent, lebt nach dem Tod/Unfall/? der Mutter mit ihrem Vater in verschiedenen Orten der USA, und kennt unglaubliche Mengen von Büchern und Zitaten durch das intensive Gespräch mit dem Professoren-Vater.
Dann aber geht es los ... 'ernste' Dinge geschehen, Menschen kommen um, seltsame Zusammenhänge tun sich auf und das Buch wird immer spannender (so dass es zum Schluss eine lange Lesenacht gibt ...) und überraschender. Zum Schluss war ich quasi überzeugt, dass eine Verschwörungstheorie hier Wahrheit geworden ist - allerdings beim erneuten Nachdenken - fast erzwungen durch die Fragen der 'Abschlussprüfung' am Ende des Buches - lässt sich einiges auch wiederum anders lesen. D.h. das ganze bleibt trotz der Fakten, die geschehen sind, irgendwie erstaunlich offen - werden hier zufällige Fakten zu einer fixen Idee verknüpft, oder sind es viele kleine Puzzleteile, die die Wahrheit darstellen.
Das Buch handelt dabei natürlich insgesamt auch von den Schwierigkeiten und der Selbstfindung von Jugendlichen. Faszinierend ist dabei die Sprache, die vielen kleinen Details, die beschrieben werden - sh. Zitate:
Dad warnte immer, es sei irreführend, wenn man sich Leute vorstellt und sie vor seinem inneren Auge sieht, weil man sie nie so in Erinnerung behält, wie sie wirklich sind, mit so vielen Widersprüchen wie man Haare auf dem Kopf hat (100000 bis 200000). Das Gehirn verwendet eine faule Kurzschrift, glättet eine Person, lässt das dominierende Charaktermerkmal alles beherrschen - ihr Pessimismus oder ihre Unsicherheit (Manchmal, wenn der Kopf besonder fauls ist, macht er sie entweder nett oder blöd) -, und man begeht den Fehler, sie nur auf dieser Grundlage zu beurteilen, wodurch man Gefahr läuft, bei der nächsten Begegnung böse überrascht zu werden.
Sein verwirrtes Gesicht erinnerte mich an diese wenig schmeichelhaften Fotos von Präsidenten, die in der New York Times und in anderen Zeitungen mit Vorliebe auf Seite eins abgedruckt wurden, um der Welt zu demonstrieren, wie die grossen Politiker zwischen den inszenierten Momenten aussahen, zwischen den aufgeschriebenen Soundbites, den einstudierten Handschlägen - nicht etwa standhaft und stattlich, nicht einmal stabil, sondern nur zerbrechlich und blöd. Diese Fotos waren amüsant, aber wenn man darüber nachdachte, begriff man, dass die Implikationen einem Angst machen mussten, weil die Bilder zeigten, wie empfindlich das Gleichgewicht in unserem Leben ist, wie zerbrechlich unserer ruhige kleine Existenz, wenn das der Mann war, der das Sagen hatte.
Alle Versuche ... waren so frustrierend, als wolle man mit einer Kugelstosskugel Beachvolleyball spielen.
Er hatte die Hautfarbe eines Auberginendips, seine schlaffe Gestalt erinnerte selbst an schönen Sonnentagen bestenfalls an häufig benutztes Bordgepäck.
"L'Avventura", sagte Dad, "hat diese Art von elliptischem Ende, das den meisten Amerikanern abslout widerstrebt: sie würden eher eine Wurzelbehandlung über sich ergehen lassen, als mit so einem Schluss allein gelassen zu werden, nicht nur, weil sie es nicht ausstehen können, wenn irgendetwas ihrer Vorstellungskraft überlassen bleibt - wir reden hier über das Land, das Elasthan erfunden hat -, sondern auch, weil sie eine selbstbewusste, optimistische Nation sind. Sie wissen, was Familie bedeutet. Sie wissen, was richtig und was falsch ist. Sie kennen sich mit Gott aus - viele von ihnen berichten von täglichen Gesprächen mit diesem Herrn. Und die Idee, dass keiner von uns wirklich etwas wissen kann - das ist ein Gedanke, dem sie auf keinen Fall ins Auge sehen wollen, da würden sie sich lieber mit ihrem eigenen halbautomatischen Sturmgewehr in den Arm schiessen lassen. Für mich hat das Nichtwissen etwas Grossartiges - wenn der Mensch seine kläglichen Versuche alles zu kontrollieren, aufgeben muss. Wenn man die Hände hebt und sagt: 'Wer weiss?', kann man einfach mit dem Geschenk des Lebens weitermachen, so wie die paparazzi, die puttane, die cognoscenti, die tappisti...".